Welche Möglichkeiten und Grenzen sie in Beziehungen wirklich birgt
Das Thema radikale Ehrlichkeit hat mittlerweile in Beziehungs- und Lebensratgebern so einigen Anklang gefunden. Denn radikale Ehrlichkeit soll Konflikte vorbeugen, da diese durch mangelnde Kommunikation und dementsprechend auch mangelnde Ehrlichkeit oft erst entstehen.
Das Konzept ist einfach – du sagst alles, was du denkst und fühlst, damit du nicht mit unausgesprochenem Bullshit herumläufst, der irgendwann zum Supergau führen könnte, nämlich wenn der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt und du deinen ganzen Frust auf einmal rauskotzt. Ich verwende für dieses Phänomen auch gerne den
Begriff „Bulimie-Streit“. Das gilt zu vermeiden, deshalb versucht man sich in radikaler Ehrlichkeit.
Radikale Ehrlichkeit bedeutet, immer die Wahrheit zu sagen, egal was passiert. Es geht darum, ehrlich zu bleiben, auch wenn es schwierig ist oder unangenehm werden kann. Diese Art der Ehrlichkeit kann dazu beitragen, Vertrauen in Beziehungen aufzubauen und Missverständnisse zu vermeiden.
Allerdings kann sie auch zu Verletzungen führen oder Konsequenzen haben, weshalb man abwägen sollte, wann und wie man ehrlich sein möchte. Aber dazu gleich mehr.
In der Praxis könnte radikale Ehrlichkeit so aussehen:
Mein Partner und ich werden langsam intim und nach ein paar Küssen und Streicheleinheiten, greift er mir in die Hose und schiebt seine Finger in mich hinein. Ich bin aber noch gar nicht bereit, denn ich bin noch nicht feucht und so richtig aufgeheizt eigentlich auch noch nicht. Mein Körper braucht noch etwas Zeit.
Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten – ich könnte wählen, nichts zu sagen, um die Situation nicht zu stören und die scheinbare Harmonie zu wahren. Oder ich könnte wählen, radikal ehrlich zu sein und meinem Partner sagen, dass ich dafür noch nicht bereit bin und noch mehr Zeit und Zärtlichkeit benötige. Gerade bei uns Frauen erlebe ich oft, dass wir uns nicht trauen, für unsere Lust einzustehen und mit der Zeit verlieren wir dadurch immer mehr den Zugang zu unserem eigenen Körper. Aber das ist eine andere Baustelle.
Das war noch ein harmloses Beispiel, also gebe ich dir noch eins:
Mein Partner verbringt in letzter Zeit vermehrt Zeit vor der Konsole und zockt. Sobald er nachhause kommt, macht er die Geräte an und wird für den Rest des Abends förmlich verschluckt.
Das alltägliche Leben, so wie Putzen, Kochen, Einkaufen, bleiben oft an mir hängen. Selbst wenn am Wochenende mal etwas Zeit im Überschuss ist, möchte mein Partner die Zeit nicht mit Haushalt verschwenden und verbringt sie lieber in der virtuellen Welt.
In meinen Augen wird mein Partner immer unattraktiver, ich mag ihn kaum noch körperlich an mich heranlassen.
Ich spüre, dass wenn ich nichts sage, werde ich stillschweigend immer mehr Frust über ihn aufbauen und die Beziehung einen bulimie-artigen Supergau erleben lassen, sobald das Fass durch eine Kleinigkeit zum Überlaufen gebracht wurde. Wenn ich radikal ehrlich bin, könnte ich das Risiko eingehen, einen großen Streit zu entfachen oder zumindest eine sehr unangenehme Konversation zu führen. Ich könnte meine Beziehung in eine schwierige Phase führen, oder bin ich nicht schon längst mittendrin?
Wenn ich meinem Partner die Möglichkeit gebe, radikal ehrlich meine Gedanken und Gefühle zu erfahren, kann er sich damit auseinandersetzen. Wenn beide Partner bereit dazu sind, nach Lösungen und Wegen zu suchen, kann die Beziehung gestärkt und ein tiefes Vertrauen aufgebaut werden. Aber dazu müssen wir ehrlich sein und nicht die scheinbare, oberflächliche Harmonie wahren, während wir im Hintergrund innerlich am Kochen sind.
Aber ich kann mit dieser Ehrlichkeit auch einen unerwünschten Effekt erzielen. Denn mein Partner kann genauso wählen, in die Abwehr zu gehen, wenn er sich seiner eigenen Schattenthemen nicht bewusst ist. Wir können die Entwicklung anderer nämlich nicht erzwingen.
Er könnte wählen, dieses Verhalten weiterzuführen und es liegt dann an mir, eine persönliche Grenze zu ziehen und die Beziehung zu einem gewissen Zeitpunkt zu beenden.
Denn radikale Ehrlichkeit ist ein Konzept, das sich auf die Praxis bezieht, in jeder Situation die Wahrheit zu sagen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Mensch für seine Reaktion selbst verantwortlich ist. Wenn also mein Partner etwas zu mir sagt, was mich triggert, bin ich verantwortlich dafür, wie ich darauf reagiere. Ich kann wählen wütend zu werden, meinen Trigger damit voll auf meinen Partner zu projizieren, oder ich kann wählen, mich erst mal aus der Situation zu entfernen, meine Reaktion abklingen zu lassen und dann darüber zu reflektieren. Was ist gerade passiert? Was hat mich getriggert? Warum hat mich das getriggert und was kann ich daraus lernen?
Wer weiß, was radikale Ehrlichkeit in diesem Fall bewirkt hätte?
Möglichkeiten und Grenzen
Den kleinen, aber feinen Unterschied macht das WIE. Radikale Ehrlichkeit hat nämlich seine Stärken und Schwächen, weshalb wir uns definitiv mit beiden Seiten auseinandersetzen sollten.
Kommen wir erst zu den Schwächen, denn wenn wir radikal ehrlich sind, ist radikal eben nicht immer der beste Weg, sondern kann ggf. auch ziemlich brutal sein.
Eine der Hauptschwächen der radikalen Ehrlichkeit und der Grund, warum viele unehrlich bleiben ist, dass wir auf diese Weise einander verletzen oder gar beleidigen können. Durch mangelnde Empathie kann radikale Ehrlichkeit dazu führen, dass die Gefühle und Empfindungen anderer nicht berücksichtigt werden. Es könnte von radikaler Ehrlichkeit auch zu radikaler Kritik oder brutaler Ehrlichkeit übergehen, die Grenzen sind fließend.
So werde ich schnell auch zum radikalen Arschloch und vergifte meine Beziehung immer mehr, weil ich mich ja im Recht sehe, wenn ich das Konzept „kenne“ und radikal ehrlich bin.
Es ist wichtig, nicht nur den Ball an mein Gegenüber zu spielen, sondern auch darauf zu achten, dass er oder sie den Ball fangen kann, in dem ich vernünftig werfe.
Eine weitere Schwäche hatte ich oben im Beispiel auch schon beschrieben. Wir müssen bei radikaler Ehrlichkeit auch mit Konsequenzen rechnen. Wir können Freundschaften und Beziehungen verlieren, oder sogar berufliche Nachteile erleiden.
Zu den Stärken zählt definitiv, dass radikale Ehrlichkeit eine Basis für Vertrauen schafft. Wer immer die Wahrheit sagt, ist vertrauenswürdig. Nicht nur für andere, sondern auch für sich Selbst.
Eine weitere Stärke ist, dass radikale Ehrlichkeit dazu beitragen kann, Klarheit in Beziehungen zu schaffen. Missverständnisse und Konflikte können minimiert werden, da es keine Geheimnisse oder unausgesprochene Wahrheiten mehr gibt. Es ist wie eine Glasscheibe zwischen den Partnern. Unehrlichkeit beschmutzt das Glas mit Dreck, aber Ehrlichkeit sorgt für Klarheit. Wir können einander wahrhaftig sehen.
Und zu guter Letzt sorgt radikale Ehrlichkeit auch für Selbstakzeptanz. Ich akzeptiere mich Selbst mit meinen Fehlern und Schwächen. Ich muss mich nicht verstecken oder lügen, um ein bestimmtes Bild von mir Aufrecht zu erhalten. Ich akzeptiere es, nicht in jeder Geschichte die Heldin zu spielen, sondern in manchen Augen auch den Bösewicht. Radikale Ehrlichkeit sorgt so durch Selbstakzeptanz für ein gesteigertes Selbstbewusstsein.
Also was kann radikale Ehrlichkeit nun?
Wir müssen verstehen, dass jede Verletzung, ob durch radikale Ehrlichkeit oder durch Unehrlichkeit ausgelöst, eine Wunde hinterlässt, die auf Dauer jeder Beziehung Schaden zufügt.
Aber so wie ein helles Licht in einem dunklen Raum jedes Detail sichtbar macht, so kann radikale Ehrlichkeit die Wahrheit in jeder Situation offenbaren und versteckte Wahrheiten aufdecken, die sonst verborgen geblieben würden.
Entscheidend ist die Intention. Mit welchem Hintergedanken bin ich radikal ehrlich? Möchte ich meinen Partner gerade einfach verletzen, ihm ein schlechtes Gewissen machen? Oder möchte ich meinem Partner die Möglichkeit geben, in mein Innerstes zu blicken, damit wir beide einander noch besser verstehen können? Ehrlichkeit braucht ein Fundament aus Liebe.
Wenn wir das beachten, ist radikale Ehrlichkeit ein geniales Werkzeug für authentische Beziehungen auf Augenhöhe.
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